Mal wieder ausgiebig gelesen: zwei Buchvorstellungen

In der vergangenen Woche schlug ich mich mit einer Erkältung herum und verbrachte deswegen nach der Arbeit mehr Zeit auf dem Sofa als gewöhnlich. Zeit, um endlich mal wieder ausgiebig zu lesen. Zwei noch mehr oder weniger leidlich aktuelle Bücher versüßten mir die lästige Schnupfen-Abschüttel-Phase: Nora Bossongs „Rotlicht“ und „Das Ende von Eddy“ von Edouard Louis. Weil beide Werke wirklich empfehlenswert sind, möchte ich sie Euch an dieser Stelle in aller Kürze ans Herz legen:

Edouard Louis: Das Ende von Eddy

„Das Ende von Eddy“ ist für mich eine Art Fortsetzung von „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon. Sicher liegt dies daran, dass ich die romanhafte soziologische Analyse des Werdegangs Didier Eribons erst vor wenigen Monaten las. Noch stärker liegt dies auf der Hand, weil das Thema des Romans quasi identisch ist: Edouard Louis beschreibt wie Eribon auch das Aufwachsen eines homosexuellen Jugendlichen in der französischen Provinz und wie sich der Protagonist aus den beengenden, diskriminierenden und gewalttätigen Zusammenhängen löst. Beide Lebenswege finden ihren zumindest vorläufigen Zielpunkt in größeren Städten. Beide Autoren sind Soziologen. Eribon wirkt als Professor, der erst gut 20-jährige Louis studierte noch, als er seinen Roman schrieb – und widmete sein Werk dem nahezu 40 Jahre älteren Eribon.

Der Altersunterschied beider Autoren hat mich erschüttert. Nicht nur für rückständige französische Provinzkäffer, sondern sicher auch für entsprechende deutsche Örtlichkeiten, gilt offenbar nach wie vor, dass Jugendliche, die sich nicht machistisch heterosexuell definieren, gemobbt und diskriminiert werden. Denn Eribon beschreibt seine Kindheit und Jugend der 1960er und 1970er Jahre. Louis ist erst 1992 geboren. Seine Geschichte von Eddy Bellegueulle – der frühere Name des Autoren – spielt also im Wesentlichen in den 2000er Jahren.

Während Eribon seine enge, homophobe und ausländerfeindliche Umwelt der damaligen Zeit stark soziologisch geprägt analysiert, was sein Buch bei aller guten Lesbarkeit durchaus kompliziert macht, wählt Louis den direkteren Weg. Eribon greift immer wieder auf Bourdieu zurück und zeichnet anhand dessen Kulturklassen-Theorien Zwangsläufigkeiten nach, denen er nur durch das Verlassen der Heimat und die quasi totale Verleugnung der Herkunft entrinnen konnte. Auch Louis flüchtet letztlich von zu Hause. Er ordnet dies allerdings nicht in theoretische Überbauten ein, sondern beschreibt nüchtern und brutal, was sich abspielte. Im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen die eigenen Gewalterfahrungen, die alkoholgeschwängerte Hoffnungslosigkeit in seiner Familie, die aussichtslosen Versuche seiner in der Unterschicht gefangenen Eltern, ihn zu beschützen. Aussichts- und hoffnungslos sind auch die Verhältnisse, die Eribon beschreibt. Allerdings abstrahiert er mehr und betont immer wieder, wie die verschiedenen Rädchen der Gesellschaft ineinandergriffen, um seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu verhindern.

Für Didier Eribon ist die Loslösung von zu Hause und die akademische Karriere die Voraussetzung für die freie Entfaltung seines Lebensentwurfs. Er schildert quasi eine Aufsteiger-Geschichte. Das ist bei Louis bei aller Ähnlichkeit des Sujets nicht so. Der Schwerpunkt seiner Erzählung liegt stärker auf der Diskriminierung, die er zu erleiden hatte. Es ist für mich als Leser einfacher, Eddy Bellegueulle sympathisch zu finden als Didier Eribon. Dafür bietet Eribon mehr soziologischen „Mehrwert“. Immerhin beschreibt er eindringlich, wie stabil die gesellschaftlichen Formationen weiterhin nach ihrem jeweiligen kulturellen Kapital geordnet sind.

Unbedingt lesenswert sind auf jeden Fall beide Bücher.

Nora Bossong: Rotlicht

„Rotlicht“ ist ein Reportage-Band von Nora Bossong und zweifellos der feministischen Lektüre zuzuordnen. Die Autorin hat Ausflüge in die verschiedenen Spielarten des käuflichen Sex‘ unternommen und beschreibt ihre Erlebnisse. Das ist die simple Grund-Idee des sehr gut lesbaren Bandes. Mit den nüchternen, reflektierten Schilderungen ihrer Besuche im Swinger-Club, bei der Tantra-Massage, auf dem Straßenstrich, im Porno-Kino und an vielen anderen Orten gelingt Bossong ein kleines Kunststück.

Mit ihrer These, dass käuflicher Sex in jedem Fall das Anpassen der Frauen an die männliche Sichtweise des Sex bedeute, schafft die Schriftstellerin es, gleich beide gängigen Hauptrichtungen des feministischen Sexarbeit-Diskurses in Frage zu stellen. Grob gesagt wird die eine Richtung durch das publizistische Universum Alice Schwarzers geprägt und lehnt Sexarbeit rundweg als Unterdrückung von Frauen ab. Eher jüngere Feministinnen, gern auch in einschlägigen Internet-Diskursen unterwegs, betonen hingegen die Selbstbestimmung der Frau, wenn sie Sexarbeit wirklich frei als Beruf wählen kann. Während Schwarzer & Co. Prostitution verbieten wollen, sprechen sich die anderen Feministinnen für die stärkere Anerkennung der Sexarbeit aus.

Bossing sät nun hier und da Körner des Zweifels in das Feld dieser angeblich selbstbestimmten Sexarbeit. Gleichwohl präsentiert sie Sexarbeiterinnen, die durchaus selbstbewusst, auf eigene Rechnung und reflektiert ihrem Beruf nachgehen. Nichtsdestotrotz macht sie ihre Zweifel transparent, ob die Schilderungen dieser Frauen nicht einen Haken haben könnten.

Weil Nora Bossong die Leserinnen und Leser mit an Orte nimmt, an denen die Lesenden und auch die Autorin nie zuvor waren, und ihre Beobachtungen schildert und bedenkt, ist ihr Buch gerade nichts für Voyeure. Denn es geht nicht um die sensationsheischende Zurschaustellung des „Verruchten“, Vielmehr entfernt sie den „roten Schleier“ vom „frivolen“ Geschehen. Das gelingt ihr übrigens nur, weil sie jeweils einen Mann dabei hat, um überhaupt in die entsprechenden Örtlichkeiten gelangen zu können. Zu ihrem Experiment gehörten auch zwei Experimente am eigenen Körper: Tantra-Massage und Gang aufs Zimmer einer Hure im Wohnzimmer-Bordell gemeinsam mit einem Freund. Wie Nora Bossong hier gerade nicht RTL-2-mäßig den Vorhang lüftet, sondern das vorherige oder auch nachfolgende Drumherum und die Atmosphäre des Ortes beschreibt, ist hohe Kunst.

Auch dieses Buch sollte auf die Leseliste aller Interessierten gelangen. Es sorgt auf anregende Weise dafür, dass scheinbar eherne Überzeugungen zur Sexarbeit auf einmal nicht mehr so eindeutig erscheinen.

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