Coucouoeuf, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Wie anders Frankreich ist und warum das gut ist

Von Münster bis an die französische Grenze sind es etwa dreieinhalb Stunden. Frankreich ist also Deutschlands direkter Nachbar. Trotzdem sind beide Länder sehr, sehr unterschiedlich.

Beispiel Wahlen: Vor einigen Jahren hielt ich mich in der Vlothoer Partnerstadt Aubigny-sur-Nère auf, als in Frankreich Wahlen zur Nationalversammlung stattfanden. Am Sonntagnachmittag wollten meine damaligen Gastgeber mit mir einen Ausflug machen. Aber erst musste natürlich das Wahllokal aufgesucht werden.

Ich halte mich für politisch interessiert, habe einschlägige Fächer studiert und mich darüber hinaus während des Studiums mit französischer Kommunalpolitik beschäftigt. Trotzdem schaffte es die Stippvisite bei den Wählenden und Wahlhelfenden mich zu überraschen.

Im Wahllokal wird gefaltet

Denn es sah im Wahllokal anders aus, als ich es aus Deutschland gewohnt war. Auf den Tischen am Eingang stapelten sich Wahlzettel in verschiedenen Haufen. Das waren die Wahllisten, auf denen die Kandidierenden einer Partei oder Wählendenvereinigung standen. Alle Wählenden nahmen ganz viele dieser Zettel mit in die Wahlkabine. Als sie heraus kamen, warfen sie eine der gefalteten Listen in die Urne und die restliche Papiere weg (sofern sie sie nicht einfach in der Kabine gelassen hatten, regelmäßig räumten Wahlhelfende dort den Papiermüll weg). Nichts also mit Kreuzchen machen, in Frankreich wird gefaltet.

Kommunal kriegen die Sieger mehr als die Mehrheit

Bereits in den Jahren zuvor stieß mein Verständnis (im Sinne von: Ich kenne mich aus) des französischen politischen Systems an seine Grenzen. Damals waren Kommunalwahlen. Es traten dort zwar prinzipiell auch Partei-Kandidierende an, aber dann doch nicht so richtig. Denn um eine Kandidatin oder einen Kandidaten auf den Bürgermeistersessel zu hieven, hatten sich Unterstützungsbündnisse gebildet, die zumeist mehrere Parteien umfassten. Vergleichbar sind diese Bündnisse in etwa mit den Political Action Committees in den USA.

Der Sinn dieser Unterstützungsbündnisse erschließt sich rasch. Wegen des notorischen, stabilitätsfixierten Mehrheitswahlrechts auf allen politischen Ebenen außer der Europawahl funktioniert die politische „Architektur“ in Frankreich anders als in Deutschland. Dort herrscht eine „The winner takes it all“-Mentalität. Kommunal kriegt der Sieger sogar noch etwas mehr als die Mehrheit, weil der Gruppierung mit der einfachen Stimmenmehrheit auf jeden Fall die Hälfte der Ratsmandate zugeteilt wird. Der Rest wird dann unter allen Parteien aufgeteilt. Treten im Wesentlichen zwei Gruppierungen gegeneinander an, kann es wegen dieser arithmetischen Kniffe passieren, dass ein Stadtrat komplett auf eine Opposition verzichten muss.

Außergewöhnliches Auftreten in der Assemblée

Zurück zur Nationalversammlung: In den vergangenen Jahren lernten deutsche TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer bei Übertragungen aus Großbritannien, dass Parlamentssitzungen nicht unbedingt so ablaufen müssen, wie wir es vom Deutschen Bundestag gewohnt sind. Im britischen Unterhaus – während der Brexit-Debatten oder auch jüngst bei den Fragerunden an Boris Johnson – geht es lebhaft zu. Statt zu klatschen, signalisieren die Abgeordneten buhend oder rufend Zustimmung oder Ablehnung.

Auch die französische Nationalversammlung als oberstes nationales Parlament scheint ein besonderer Ort der Demokratie zu sein. Nach der jüngsten landesweiten Wahl erfuhr das staunende, mit einer Dreier-Koalition gesegnete deutsche Publikum staunend, dass französische Parlamentarier sich so gar nicht an Koalitionsregierungen gewöhnen wollen.

Eine solche wäre nämlich nötig, wenn Präsident Emanuel Macron einigermaßen sinnvoll weiterregieren wollte, ohne das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Denn beim jüngsten Urnengang verlor er die absolute Mehrheit seiner eigenen Gruppierung.

Offensichtlich sind gesittete Kooperationsstrukturen in der Assemblée Nationale aber kaum möglich. Wer’s nicht glaubt, lese Rudolf Balmers glänzendes Feature „Wie, Wahl?“ in der taz. Dort erklärt er einerseits das vermaledeite Mehrheitswahlsystem, vor allem aber liefert er amüsante – oder erschreckende? – Einblicke in die Umgangsformen während der Plenardebatten:

„Wenn ein*e Mi­nis­te­r*in vor der Ratsversammlung die eigene Politik gegen die Kritik verteidigt, ist sie oder er wegen ständiger Zwischenrufe oft kaum zu verstehen. Und umgekehrt schämen sich die Ver­tre­te­r*in­nen der Regierungsmehrheit nicht, in derselben, manchmal unflätigen Manier lautstark während Reden der Opposition zurückzupoltern.“

Besonders hat es Balmer der Abgeordnete Jean Lassalle aus dem Pyrenäen angetan. Dieser treibt gern den ein oder anderen Schabernack während der Sitzungen:

„Einmal überraschte er im Halbrund des Ratsaals seine halb eingenickten Kolleg*innen, indem er aufstand und ohne Vorwarnung dröhnend ein Schäferlied im Dialekt seiner Region anstimmte.“

Der Staatspräsident hat letztlich immer schuld

All diese merkwürdigen Verhaltensweisen rühren natürlich daher, dass Frankreich keine klassische parlamentarische Demokratie ist. Seit der von Charles de Gaulle 1958 eingeführten fünften Republik bestimmt ein starker Präsident die Politik. Er ernennt Premierminister, kann sie zum Abtritt nötigen, ist Oberbefehlshaber, Vertreter des Landes nach außen und überhaupt in jeder Hinsicht richtlinienkompetent. Als Parlamentsabgeordnete/r mag man dann durchaus ob der eigenen Machtlosigkeit verzweifeln.

Natürlich verfügt der französische Staatspräsident nicht nur über eine im europäischen Vergleich unvergleichliche Machtfülle, vor allem sind es auch immer ganz besondere Menschen, die die Französinnen und Franzosen sich zu ihren Königen auf Zeit erwählen. Erinnern wir uns nur an so charakteristische Köpfe wie de Gaulle, Mitterand oder Sarkozy. All diese Politiker traten sicher mit besten Absichten ihr Amt an. Während ihrer Zeit im Elysées-Palast wurden sie aber zunehmend exzentrischer. Mitterand dürfte beispielsweise gegen Ende seiner Amtszeit davon überzeugt gewesen sein, dass er übers Wasser laufen kann.

Der Präsident als oberster Romanautor

Fast alle Präsidenten verewigten sich auch mit dem ein oder anderen gigantomanischen Architekturprojekt im Bewusstsein ihrer „compatriotes“ – allen voran Mitterand mit der Nationalbibliothek, der Glaspyramide vorm Louvre und vielem mehr, zu denken wäre aber auch an Pompidou mit dem schließlich nach ihm benannten Centre Pompidou. Ludwig Erhards Bundeskanzleramt in Bonn ist nichts dagegen – zu schweigen von der von Helmut Kohl verantworteten Waschmaschine namens Kanzleramt im vereinigten Berlin.

Dass sich Frankreichs Staatspräsidenten so akzentuiert verhalten hat einen speziellen Grund, wie der genaue, halb einheimische Beobachter Nils Minkmar in seinem extrem lesenswerten Buch „Das geheime Frankreich“ erkannt hat: Die Bewohner des Elysées-Palasts – Minkmar: „Seit zehn Jahrzehnten schon kommt jeder Bewohner in weit schlechterer Verfassung heraus als bei seinem Einzug“ – begreifen es nämlich als ihre vornehmste Aufgabe, den französischen roman national fortzuerzählen:

„Kein anderes Land kennt eine solche literarisch-psychologische Sehnsucht (…) nach einer einheitlichen, narrativen Darstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“

„Es ist der Wunsch nach einer Geschichte, in der Frankreich insgesamt auf der Seite der Guten steht, ein Agent von Fortschritt und Aufklärung in der Geschichte, tragende Kraft des Bürgertums ist.“

Kein Wunder also, dass ein Staatspräsident in Frankreich gern ein bisschen größenwahnsinnig wirkt oder wird. Stellen wir uns als Deutsche nur einmal vor, Kanzler Olaf Scholz oder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hätten an sich den Anspruch, die Erzählung Deutschlands in Richtung einer Heldensaga weiterschreiben zu wollen. Besser ist wohl, dass sie sich eher als oberste Staatsbeamte begreifen.

Unsere beiden Länder sind doch sehr unterschiedlich. Das ist sicher auch gut so!


Beitragsbild: Coucouoeuf, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

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