Blick von Lubawka aufs Riesengebirge

„Alles, was wir nicht erinnern“: Erinnerungen, wie es auch „bei uns“ gewesen sein könnte

Väterlicherseits stamme ich aus einer Vertriebenenfamilie. Der gesamte Familienzweig wurde nach Ende des zweiten Weltkrieges aus Schlesien vertrieben. Meine Oma stammte aus dem heutigen Wroclaw (Breslau), mein Opa aus Lubawka (Liebau) nahe dem Riesengebirge. Mein Vater ist noch in Breslau geboren und hat dann in Liebau gewohnt. Allerdings war er bei der Vertreibung im Kindergartenalter und hat daran nur sehr vereinzelte Erinnerungen.

„Zuhause“ war immer Thema

Das ist alles sehr lange her. Trotzdem war das Thema „Zuhause“ in unserer Familie immer sehr präsent. Denn Zuhause war nicht im heimischen Ostwestfalen, sondern in Schlesien, wohin man aber eigentlich bei Lichte betrachtet gar nicht zurückwollte.

Natürlich verlief der Diskurs noch wesentlich intensiver, als meine Großeltern und ihre zahlreichen Geschwister noch lebten. Gerade erst ist der letzte Großonkel verstorben, der noch fest in Schlesien verwurzelt gewesen war. Für uns aus der Enkel-Generation hatte das Schlesien-Thema immer etwas Mystisches. Wir konnten uns überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, von einem Tag auf den anderen aus der Heimat herausgeworfen zu werden. Wir verstanden zunächst nicht, dass die Alten so an ihrer alten Heimat hingen, obwohl sie sich allesamt gute und gesicherte Existenzen in Westdeutschland aufgebaut hatten.

Erinnerungsselige Familienfeiern

Dann waren da noch die Familienfeiern. Je weiter die Stunden vorrückten, um so erinnerungsseliger wurden die Gespräche. Und kontroverser. Denn die Vertriebenenverwandschaft bildete sämtliche Positionen zum Vertreibungsdiskurs ab. Da waren die, die alles wiederhaben wollten und sich komplett ungerecht behandelt fühlten. Andere sahen durchaus, dass die Vertreibung das Ergebnis des Nazi-Terrors in Osteuropa war. Wieder andere zeigten sich in der Lage, an die jetzigen Bewohner/innen Schlesiens zu denken – selbst Vertriebene aus den nun belorussischen ehemaligen polnischen Ostgebieten.

Bisweilen war auch jemand mal nach Liebau gefahren und hatte sich „unser Haus“ angeschaut. Je nach politisch-persönlicher Verortung war die Reaktion dann, dass die neuen Bewohner/innen alles kaputt gemacht hätten oder dass sie für die schwierigen Verhältnisse dort es eigentlich ganz gut hinbekommen hätten. Immer wurde aber berichtet, dass die jetzigen Eigentümer/innen des Hauses freundlich gewesen sein.

Auch die Enkel fühlen sich der Region unterschwellig verbunden

Und dann war da das zunächst hintergründige, aber durchaus vorhandene „Heimatgefühl“, das die Enkel-Generation irgendwie mit Schlesien verband. Man wollte doch ganz gern mal schauen, woher die Großeltern eigentlich kamen. Erstaunlich viele unternahmen Reisen dorthin, um eigene Eindrücke zu gewinnen.

Blick von der Schneekoppe
Blick von der Schneekoppe in Richtung Karpacz und die niederschlesische Landschaft.

Diese eigenen Eindrücke mussten auch dazu dienen, die Leerstellen in den Erzählungen der „Alten“ zu füllen. Denn zwar erzählten sie gern und viel von „Zuhause“, aber das Meiste verschwiegen sie. Die Fluchtroute? Kenne ich nicht. Was ihnen während der Flucht widerfahren ist? Keine Ahnung. Wie die letzten Kriegsmonate in Schlesien waren? Es wurde nicht erzählt.

Übrigens scheint auch mein Vater dazu nichts zu wissen. Vermutlich fragte er als Jugendlicher nicht nach oder bekam keine Antworten. Für umfassende eigene Erinnerungen war er noch zu jung. Er war aber bereits zu Zeiten des „Ostblocks“ einmal in seine Herkunftsregion gereist. 2017 unternahmen wir dann eine gemeinsame Reise, was ihn erkennbar freute. Und für mich war der Aufenthalt auch inspirierend und lehrreich. Seitdem glaube ich einiges besser zu verstehen. Das Meiste werde ich aber nie mehr erfahren, denn das Wissen um die Herkunft der Familie aus dieser Region ist nunmal inzwischen weitgehend ausgestorben.

Christiane Hoffmann wandert auf den Spuren ihres Vaters

Nun habe ich eine sehr lange Vorrede gehalten, nur um ein Buch zu empfehlen. Denn kurz vor meinem Urlaub im Pinzgau fiel mir das dieses Jahr erschienene Buch „Alles, was wir nicht erinnern“ der ehemaligen Spiegel-Journalistin Christiane Hoffmann in die Hände. Wer auch nur den kleinsten Bezug zum Vertriebenen-Thema hat, sollte es lesen.

Die Autorin beschreibt in dem Buch, wie sie sich auf die Spuren ihres Vaters begeben hat und die Fluchtroute nachwanderte, die er nach dem Krieg mit seiner Familie zu bewältigen hatte. Sie besucht den Herkunftsort des mittlerweile verstorbenen Vaters, Rozyna (Rosenthal), südöstlich von Wroclaw. Sie besucht das alte Haus, unterhält sich mit den jetzigen Eigentümern, wichtiger aber, sie macht auch auf den Stationen der Fluchtroute immer wieder Halt und versucht, noch Menschen zu finden, die sich an diese Zeit erinnern.

Hoffmanns Erzählung zeigt, wie wichtig nur wenige Jahre sein können. Ihr Vater war neun Jahre alt, als er Schlesien verlassen musste, also etwa fünf Jahre älter als mein Vater. Entsprechend älter ist auch die Autorin und kann deshalb aus einem ganz anderen Erinnerungsschatz schöpfen. Sie hat einen weiteren Trumpf in der Hand. Es gibt schriftliche Berichte von Teilnehmer(inne)n der Flucht-Gruppe. Die Route ist also bekannt. Auch manches zwischenmenschliche Geschehnis wurde für die Nachwelt festgehalten. Bei uns ist die Situation eine etwas andere. Mein Vater vermutet, dass er das heutige Deutschland eher im Norden, in Mecklenburg, betreten habe, um dann von dort Richtung Friedland weiterzureisen und schließlich irgendwann in seiner heutigen Heimat anzukommen.

So oder ähnlich könnte es sich zugetragen haben

Andere Voraussetzungen also, aber trotzdem ist dieses Buch für jemanden mit einer – wenn auch lockeren – Beziehung zur Thematik wertvoll. Denn es liefert mir Erzählungen, wie es „so ähnlich“ wohl auch in meiner Familie gewesen sein wird. Ich fühlte mich sofort angesprochen. So etwa bei einer Familienfeier-Szene, die sie gleich am Anfang schildert:

„Es wurde Skat gekloppt und politisiert. Meist begannen die Gespräche bei der Tagespolitik, den Steuern, Willy Brandt, dann kamen sie auf die Nazizeit und den Krieg und alles, was man doch einmal sagen dürfen musste. … Und wenn alles heraus war und zurechtgerückt, alles erlittene Unrecht aufgezählt, dann ließ die Heftigkeit des Gesprächs nach, der Eifer wich langsam der Wehmut, und es wurde Zeit für die Heimat.“

Eine solche Szene entspricht in weiten Teilen auch dem, was ich bei unseren Feiern mitbekam. Weil ich selbst auch schon in Schlesien war, bringt mir Hoffmanns Buch natürlich auch Landschaft und Leute dieser polnischen Region näher. Ich verstehe dadurch die Situation vor Ort vielleicht etwas besser. Mir war tatsächlich, als ich dort war, aufgefallen, mit wie viel Engagement Menschen meiner Generation dort etwas aufbauten. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass auch die dort Lebenden Vertriebene sind und vermutlich genauso „geschichtslos“ sind wie die deutsche Vertriebenenkinder-Generation. Nun wollen sie aber doch Wurzeln schlagen und gestalten entsprechend ihre Heimat unbelasteter von den Einflüssen der Alten. Auch solche Begegnungen schildert Christiane Hoffmann.

Wer übrigens über meinen erinnerungsschwangeren Text hinaus eine informative Rezension von „Alles, was wir nicht erinnern“ sucht, möge sich mit diesem Artikel der Süddeutschen Zeitung befassen.

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